26. Januar 2010
Für jeden Tag Isolation ein Kreuz auf ein Kalenderblatt
114 schreibt Simone B. auf ein Kalenderblatt. Mit Kugelschreiber. Blau. Das Kalenderblatt trägt das Datum 17. Juni 2004. Die Sonne ist um 5.05 Uhr aufgegangen, um 21.41 Uhr geht sie unter. Simone B. ist seit fast vier Monaten in einer Außenwohnung der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch. Schreibt zwei Tage später in ihr Tagebuch: „Heute ist Samstag, und es ist total beschissen. Ich habe das Gefühl, ich lasse Merlin in Stich. Aber was soll ich machen?“ Merlin ist der Sohn von Simone B. Vier Jahre alt. Sie darf ihn nicht sehen. Sie ist seit 114 Tagen in „Klausur“, verabschiedet sich von jedem Tag mit einem Kreuz auf einem Kalenderblatt. „Klausur“ nennt der Leiter der Einrichtung die Isolation von Patienten.
Fast sechs Jahre später sagt Simone B.: „Obwohl alles schon so lange her ist, muss ich immer wieder an diese Zeit denken. Ich bin zwar clean, aber die Zeit in Wilschenbruch hat auch einiges in der Seele kaputt gemacht.“ Daran können nach ihrem elfmonatigen Aufenthalt in der Einrichtung auch Psychologen nichts ändern. Ihre große Stütze ist eine Frau, die ebenfalls in der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch gewesen ist: „Wenn ich bei ihr bin, reden wir viel über früher. Ich bin dann froh, dass ich einen Menschen habe, der das auch durchgemacht hat.“
Viermal ist sie in Wilschenbruch in „Klausur“ geschickt worden. Das erste Mal nach drei Wochen. Nach einem Kuss für einen Patienten. „Ihr hattet Sex“, behauptet das Team. „Hatten wir nicht“, sagt Simone B. heute noch. Sie wird von Merlin getrennt, muss den Tag unter einer Treppe verbringen und „über ihre Fehler nachdenken“. Noch schlimmer ist für sie die Trennung von ihrem Sohn: „Immer hatte ich Angst, habe gedacht, ich mache das alles nur für ihn.“
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